Versorgung in der Kranken- und Altenpflege am Limit
Apen
Wer in seinem privaten Umfeld Kontakt zu Menschen hat, die in der Pflege arbeiten, wird unweigerlich auch die Probleme dieses Berufsstandes kennenlernen. Häufig wenden sich Pflegekräfte mit ihren Sorgen hinsichtlich der zunehmenden Überlastung an gute Freunde oder Familienmitglieder. Die Situation für alle sichtbar in Zahlen gefasst hat nun die Gewerkschaft ver.di und zeigt auf: Wer sich derzeit beklagt, hat häufig Recht.
Die wichtigsten Erkenntnisse aus dem Versorgungsbarometer
Rund 11.990 Beschäftigte aus Pflegeberufen haben Verantwortliche für die aktuelle Version des Versorgungsbarometers befragt. Die Teilnehmer stammen aus allen 16 Bundesländern und arbeiten sowohl in der Altenpflege als auch in somatischen sowie psychiatrischen Kliniken. Im Zentrum stand die Beantwortung eines Fragenkatalogs, der eine möglichst realistische Sicht auf die derzeitige Situation in der Pflege ermöglichen sollte.
In ihrem Bericht kommt die Gewerkschaft zu einem ernüchternden Gesamtergebnis: Der Zeiger des Versorgungsbarometers steht im tieforangenen Bereich der Skala. Hier gilt nun die Annahme, dass die Versorgung in Deutschland gefährdet und das Arbeiten für die Pflegekräfte selbst gesundheitsgefährdend ist.
Im Detail wird deutlich, was das für die tägliche Arbeit in Pflegeberufen bedeutet. Rund 25 Prozent der Befragten können eigenen Angaben zufolge gar nicht oder nur in eingeschränkter Form auf Bedürfnisse und Wünsche von Patienten sowie Bewohnern eingehen. Zusätzlich bleibt viel Arbeit liegen: 52 Prozent der Umfrageteilnehmer gaben an, ihre Aufgaben nicht vollständig binnen eines Arbeitstages erledigen zu können. Lediglich ein Drittel der Befragten könne Pausen überwiegend in Ruhe und voller Länge verbringen.
Hinsichtlich mangelnder Möglichkeiten für fachlichen Austausch zeichnet das Versorgungsbarometer ebenfalls ein klares Bild. Vielen Pflegekräften fehlt nicht nur der Austausch. Ebenso ist es laut jedem fünften Befragten überhaupt nicht möglich, Auszubildende strukturiert anzuleiten. Somit leidet die Qualität der Ausbildung bereits jetzt unter der hohen Arbeitsbelastung.
Angesichts dieser Ergebnisse wundert es wenig, dass 20,5 Prozent der Teilnehmer äußerten, ihrer Tätigkeit nicht im Einklang mit ihren Ansprüchen nachgehen zu können. Für 78 Prozent der Befragten ist es nicht vorstellbar, auf diese Weise bis ins Rentenalter zu arbeiten. Mögliche Fluchtgedanken und Abwanderungsströme aus der Pflege sind dabei nicht neu. Auch in Reaktion auf die Coronakrise dokumentierten nicht wenige Pflegekräfte in Social Media ihren „Pflexit“.
Gesundheitsminister Spahn in der Kritik
Nicht erst, seit die Ergebnisse des Versorgungsbarometers öffentlich sind, steht Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) deutlich in der Kritik. Vertreter verschiedener Verbände und Gewerkschaften, aber auch Pflegekräfte selbst, sprechen sich mitunter laut gegen die derzeitige Politik aus, die der kommenden Regierung viel Arbeit überlässt. Zudem wird vielerorts große Enttäuschung hinsichtlich nicht eingehaltener Versprechungen und unzureichender Regelungen laut.
Spahn selbst wehrte sich gegen Vorwürfe dieser Art und merkte an, es habe in den letzten drei Jahren sehr viele Veränderungen in der Pflege gegeben. Der Gesundheitsminister unterstrich dies, indem er davon sprach, es sei so viel passiert, wie es zuvor 20 Jahre lang nicht der Fall gewesen sei. Als Errungenschaften nannte er
· die Modernisierung der Pflegeausbildung,
· die Abschaffung des Schulgeldes für Auszubildende in der Pflege,
· die Einführung einer tarifgebundenen Bezahlung in der Altenpflege
· und die Schaffung neuer Ausbildungsplätze.
Von der neuen Regelung für das Gehalt in der Altenpflege sind zeitgleich nicht alle begeistert. Ver.di kritisierte die Anfälligkeit der Neuregelung für Schlupflöcher und mögliche Dumping-Tarifverträge als Gefälligkeitsleistung.
Ebenfalls zu den Erfolgen der letzten drei Jahre zählte Spahn auch die Entnahme der Pflege aus dem Fallpauschalen-System. Dies, so der Gesundheitsminister, habe den Kostendruck in Krankenhäusern gesenkt. Die Einführung von Untergrenzen für die Besetzung zählt gemäß Spahn zusätzlich zu den positiven Geschehnissen.
Bei einzelnen Aspekten der neuen Pflegereform warnte Ver.di allerdings bereits vor Enttäuschung unter Pflegekräften. Ob sie am Schluss tatsächlich von einer höheren Bezahlung und verbesserten Bedingungen profitieren, bleibt abzuwarten. Auch die generalistische Pflegeausbildung sehen viele Experten aus der Altenpflege kritisch. Weil sich Pflegekräfte künftig für diese Spezialisierung und gegen berufliche Flexibilität entscheiden müssen, könnte dies der Altenpflege einen minderwertigen Anstrich verleihen.
Forderungen werden laut: Es gibt Alternativen
Was die Personaluntergrenzen in Krankenhäusern betrifft, äußerte sich Dr. Gerald Gaß, Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, kritisch. Gaß zufolge mangele es den kleinteiligen Personaluntergrenzen an Bezug zur Realität, weshalb ihnen die Anwendbarkeit als Maßstab fehle. In diesem Zusammenhang wies Gaß auf das alternativ vorgestellte Konzept des Pflegepersonalbedarfsbemessungsinstruments PPR 2.0 hin. Dieses wurde entwickelt, um die Verantwortung für die Besetzung in die Kliniken zu verlagern und somit die Qualität der Versorgung zu sichern. Ver.di sprach und spricht sich gleichermaßen für eine sofortige Umsetzung von PPR 2.0 aus.
Bezugnehmend auf die Situation in psychiatrischen Einrichtungen – über diese berichtet ver.di in seinem Versorgungsbarometer recht detailliert – fordern die Experten ebenfalls Veränderungen. Ver.di merkt an, dass ein gutes Milieu auf den Stationen entscheidend für die Gewaltvermeidung und den Erfolg der Behandlung sei. Rund 60 Prozent der Befragten gaben jedoch an, dass ihnen die Zeit für die Durchführung aller nötigen Einzeltherapiemaßnahmen fehle. Einen Ausweg aus der Misere stellt laut ver.di die einhundertprozentige Einhaltung der Richtlinie „Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik“ dar.
Servicepersonal im Fokus: Schlecht bezahlt und überfordert
Teil der Befragung für das Versorgungsbarometer waren neben den Pflegekräften außerdem Beschäftigte in Servicebereichen verschiedener Einrichtungen. Hier befragten die Verantwortlichen ein möglichst breit gefächertes Repertoire an Berufsbildern, besonders stark vertreten waren dabei Arbeitskräfte in Wäschereien sowie Reinigungskräfte.
Unter den Servicekräften zeigte sich ebenfalls mangelnde Zufriedenheit mit der Arbeitsbelastung. Ein Viertel von ihnen gab an, nicht immer zur Einhaltung der gültigen Hygienestandards in der Lage zu sein. Dies gilt auch für Reinigungskräfte.
Ein vermehrt auftretendes Problem im Servicebereich ist laut ver.di zudem die Tatsache, dass etliche Beschäftigte im Servicebereich als externe Mitarbeiter in Einrichtungen tätig sind und daher unter mangelhaften Bedingungen arbeiten müssen. Dass sich beinahe 50 Prozent der Befragten Servicekräfte teilweise nicht als zur Belegschaft zugehörig fühlen, unterstreicht dies.
Auch finanziell sieht es für die Mitarbeiter im Servicebereich nicht immer gut aus: 48 Prozent äußerten Schwierigkeiten dabei, ihren Lebensunterhalt mit ihrem Gehalt zu bestreiten. In 23 Prozent der Fälle gaben die Befragten sogar an, weitere Jobs zu benötigen, um sich finanziell über Wasser halten zu können.
Diesbezüglich fordert ver.di für das in Küchen, Wäschereien und anderen Servicebereichen von Einrichtungen tätige Personal ebenfalls verbesserte Arbeitsbedingungen. Und nicht nur das: Finanziell soll den Forderungen der Gewerkschaft nach auch für das Servicepersonal der gleiche Tarifvertrag wie für die Pflege gelten.
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