Montag, 15. Mai 2017, 19:39 Uhr
Erinnerungen

Der letzte Sommer - Rote Kirschen und ganz viele Sandwege

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Ich habe so oft über meine Wurzeln nachgedacht, über Empfindungen, die man als Kind wesentlich anders behandelt als es Erwachsene später tun. Warum ist einem so vieles peinlich und warum denkt man manchmal, daß der Himmel grau ist wenn er doch in Wirklichkeit wolkenlos blau über uns erstrahlt?

Apen / Ammerland / Westerstede


Heimat ist da wo die Wurzeln sind, auch wenn man nicht immer daran denkt, aber vergessen wird sie nie.
Es war der letzte Sommer vor unserem Auszug aus der kleinen Bauernschaft Klauhörn. Die Eichenstraße , an der wir wohnten, war während einiger Jahrzehnte nicht wesentlich attraktiver geworden, nur waren im Zuge der Bebauung, soweit es denn durch die Baubehörde genehmigt wurde, einige Anbauten, angelehnt an bestehende Wohnhäuser, errichtet worden.
Aber das war damals nicht wirklich der Rede wert. Alles war eigentlich wie immer. Der holperige Sandweg in Richtung Apen, quer durch, wie wir sagten, den nannten wir Moorweg. Er war wirklich eine gute Abkürzung wenn nicht der Mullsand im Sommer jegliche Durchfahrt mit dem Fahrrad zur Tortur gemacht hätte. Eigentlich konnte man nur Laufen, etwas anderes ging gar nicht. Eine Asphaltstraße, das wär’s doch, hatte ich so oft gedacht wenn ich den weitaus längeren Weg nach Apen zum Einkaufen nehmen mußte.
„Am damaligen“ Moorweg gelegen war eine einzige Hofstelle, sonst nichts. Der Name dieses Anwesens fällt mir gerade wieder ein, Hullmann hießen die Leute und sie mußten sehr einsam sein, habe ich damals gedacht, so ganz ohne Nachbarn an dem ganzen langen Weg .
Dort bat man um Unterschlupf, wenn ein starkes Gewitter den Nachhauseweg zu beschwerlich machte. Man wartete bis alles vorbei war und bekam von den netten Anwohnern mindestens eine Tasse Tee „mit Wulkje“ serviert.
Daran dachte ich auch in diesem letzten Sommer 1976, ich war so oft an der Hand meines Großvaters diesen Weg gegangen. Er blieb mir in Erinnerung. Ganz besonders aber denke ich an die nette Familie im Sommer 1976, die mir gestattete, auf ihrem unbewohnten Grundstück Kirschen zu pflücken, an der Straße nach Apen.
Die Marmelade, die ich daraus kochte habe ich dann mit Etiketten beschriftet, sie trugen die Aufschrift, „Kirschmarmelade aus dem letzten Sommer“.
Das sind Erkenntnisse und Erlebnisse, die ich in meinem Herzen trage, Erinnerungen an ein Dorf, wo ich aufgewachsen bin aber dennoch oft ungerne den Namen des Dorfes aussprach.Als Kind und auch als Jugendliche, diesen Namen zu nennen, „ K l a u h ö r n , das brachte schon kleine Probleme, die mir damals allerdings unüberwindbar erschienen. Jeder wollte darin etwas „Unrechtmäßiges“ sehen. Da wohnt man doch nicht, das klingt doch schlimm. Nach Hörnern und nach Klauen. Aber gerade daher kam der Name wohl auch, es wurde viel Hornvieh gehalten, also „Klauhörn“.
Später war ich dann selbstbewußt genug, um auch mit diesem Namen klarzukommen, aber die kindlichen Empfindungen werden immer noch sehr unterschätzt.
Es war nicht so, daß es nur gute Dinge gab, ganz viel Negatives pflasterte ebenfalls meinen Weg, verlangte mir und vielen anderen ganz viel ab, wie ich finde, mehr als es auch in der Zeit in anderen Teilen der Gemeinde üblich war.

Charakteristische Züge in einer bewegten Nachkriegsgesellschaft zu glorifizieren halte ich mindestens genauso falsch wie nicht belegte Negativbeschreibungen verschiedener Extremsituationen festzuhalten.Um ein genaues Dorfbild zu erhalten bedarf es mehr als einer Beschreibung der Perspektiven aus kindlicher Sicht , da sie die wahren Lebenssituationen nicht ausreichend erfassen kann. Vieles, was das Leben auf dem Dorf ausmacht hat durchaus Nuancen, die mit einem positiven „Drauf-Schauen auf die Vergangenheit“ einem Rückblick mehr Annehmlichkeiten als Unannehmlichkeiten zuordnen können und auch sollen. Das ist ohne Frage jedem Erzählenden natürlich selbst überlassen. Diejenigen, die dabei waren, als in den Jahren ab 1945 die wirtschaftliche Neugestaltung langsam vorankam, die haben mit Sicherheit auch die Härte sowie die oft genug zu brechen drohende Willenskraft der Dorfbevölkerung mitbekommen und werden meine Ausführungen bestätigen können. Es war alles andere als einfach in einer Zeit voller Umdenken und kargen Finanzmitteln zu leben und auch das „Kindsein“ war lange nicht so behütet wie es heute üblicherweise gelebt wird. Mehr noch, es stellte manchmal unangemessene Anforderungen an die „Kleinsten“ der Dorfgemeinschaft. Die langen Wege zur Schule und zum Einkaufen waren unangenehm und anstrengend, zumal bei schlechtem Wetter die nasse Kleidung erst nach der Schule getrocknet werden konnte. Man half zwar wo man konnte in dieser familienähnlichen Gemeinschaft, vieles wurde zusammen erst möglich, aber demgegenüber wurde an Gewohnheiten und Gebräuchen sehr stark festgehalten. So war es von dem Durchsetzungsvermögen einzelner Familienmitglieder abhängig, inwieweit man das, was man ändern wollte, auch hinbekam. Die Älteren gaben den Ton an, so war es auch noch zu meiner Zeit. Man saß zwar zusammen in Eintracht bei denjenigen Nachbarn, die den ersten Fernseher im Dorf hatten, aber unabhängig von den Gewohnheiten der Gastgeber, blieb man auch schon mal - oder meistens sogar - bis zum Testbild einfach auf seinem Stuhl sitzen. Das mußte dann auch akzeptiert werden, ob man das gut fand oder nicht!
Die Gemeinschaft funktionierte bei oberflächlicher Betrachtung ganz gut, ein respektvolles Umgehen miteinander hatte aber genausoviel, vielleicht sogar mehr Risse als heute üblich ist.

Ich denke oft an Wiesen mit gelbem Löwenzahn, an soviel „Sommer“ in jedem Atemzug und an Federballspiele auf der Straße.Auch an enge Nachbarn, die man immer aufsuchen konnte. Gedanken gibt es auch  an halb verfallene Scheunen auf riesigen Wiesen, dunkel und fremd; und sie flößen mir heute noch Angst ein wenn ich daran denke. In einer plattdeutsch-sprechenden Bevölkerung waren diejenigen, die schon damals hochdeutsch sprachen irgendwie Exoten und anders, das paßte nicht immer zusammen. Meine im Rheinland verbrachte Zeit war nicht sehr hilfreich im Zusammenleben, zuviel Hochdeutsch, zuviel Redensarten, die man nicht kannte.Mein Schulfreund und ich gerieten aufgrund unseres hochdeutsch-sprachlichen Andersseins oft in unschöne verbale und auch schon mal körperliches Auseinandersetzungen mit den älteren Kindern. Wenn man sich dann nicht anders zu helfen wußte, dann mußte der „kleine“ Bruder des bösen "Großen" schon mal dran glauben, was natürlich absolut falsch war und auch keine Lösung des Problems herbeiführte. Heute nennt man das wohl Mobbing, früher gab es keine Bezeichnung dafür. Wenn man sich nicht wehren konne, dann ging man sich aus dem Weg, so gut es eben ging. Es war, wie schon gesagt, eine Zeit voller Umbrüche, Neuerungen. Es kamen auch mal neue Menschen, die sich nur zeitweise als Hilfskräfte in der Dorfgemeinschaft einfanden; eine Weile gehörten sie dazu , waren aber auch schnell wieder verschwunden.
Am Ende der Eichenstraße, in einem der letzten Häuser in Richtung Ihorst, dort bekam eine Flüchtlingsfamilie eine Einweisung und wohnte auf ganz engem Raum, sicherlich mit viel Entbehrungen. Ich glaube sie kamen aus Berlin, hatten 2 Töchter und einen Sohn und wenn ich mich nicht irre, dann war ihr Wohnraum kaum als Wohnung zu bezeichnen. Aber sie waren nicht unglücklich, kann ich mich erinnern. Zwar weiß ich ihren Namen noch, möchte ihn an dieser Stelle aber aus Datenschutzgründen nicht nennen.
Die hygienischen Verhältnisse auf dem Land waren nicht das, was man sich gut vorstellen mag. Allein deshalb würde ich in dieser Welt meiner Kindheit nicht noch einmal leben wollen. All’ das was vor dem Krieg wohl schon im stetigen Aufbau begriffen war, das war auf einmal nicht mehr möglich, weil die Betreiber von Landstellen und Betrieben nicht mehr aus dem Krieg zurückgekehrt waren.
Es kamen viele wieder, mit Verwundungen , Verbrennungen, mit abgeschossenen Extremitäten und schwersten seelischen Verletzungen. Auch meine Mutter wartete auf ihren Ehemann , meinen Vater vergebens.Lange Jahre des Wartens vergingen, aber er kam nicht in unser Dorf zurück, ich habe oft einen Vater vermißt!
Die kleinen Betriebe, die gerade ihre Chance bekommen hatten, waren nach Ende des Krieges eher rückläufig und wurden sehr oft von Familienmitglieder übernommen, die sich nur notdürftig mit der Materie auskannten, da die Gründer und Betreiber diesen sinnlosen Krieg nicht überlebt hatten.
Zu Klauhörn habe ich immer noch einen „heißen Draht“ , vielmehr eine enge Verbindung. Mindestens ein paar Mal im Monat passieren wir die Eichenstraße oder neuerdings auch den „asphaltierten Moorweg“, der heute "am Mühlenbach" heißt, um in Ihorst unsere Enkelin zu besuchen. Sie hat mit ihrer Familie heute eine nachbarschaftliche Beziehung zu Menschen, die mir als Kind und Jugendliche die Hand reichten und nette Gespräche mit mir führten. So hat sich ein Kreis schon fast wieder geschlossen.Er begann mit meiner Geburt an der Eichenstraße in Klauhörn, bei der eine Hebamme Schröder aus Apen mir den ersten Blick in die Welt ermöglichte. Sie war in der Gemeinde eine Legende, auf einem Motorrad auf holprigen Wegen unterwegs und immer zur Stelle, wie abgelegen der Ankunftsort eines neuen Erdenbürgers in der Gemeinde auch war.

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