Sonntag, 22. April 2012, 19:13 Uhr
Harper Lee

Wer die Nachtigall stört - zum Geburtstag der Autorin

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Das kleine, brave Südstaatenmädchen wollte sie nie sein, den großen Ruhm wollte sie nie für sich und heute ist sie Botschafterin einer untergegangenen Zeit.

Oldenburg Das kleine, brave Südstaatenmädchen wollte sie nie sein, den großen Ruhm wollte sie nie für sich und heute ist sie Botschafterin einer untergegangenen Zeit, deren Botschaft immer noch aktuell ist: die Autorin Nelle Harper Lee wird am 28. April 86 Jahre.


»Oh, der ist ja in schwarz-weiß! «, kommentiert meine Freundin – ein Kind der frühen 90‘ ziger - meinen jüngsten Versuch, das abendliche TV – Programm mit etwas Kultur zu würzen und verschwindet fluchtartig Richtung Tür.

Ja, »der« ist in schwarz-weiß; Gregory Peck ist in schwarz-weiß, die nervig – altkluge Kinderdarstellerin an seiner Seite, die Straßen, die Häuser, eben alles. Warum »Wer die Nachtigall stört« trotzdem (oder gerade deshalb?) ein toller Film ist, liegt vor allem daran, dass er sich sehr genau und nur mit wenigen Einschränkungen an die Buchvorlage (meinem Lieblingsbuch!) hält. Harper Lee’s gleichnamiger Roman erschien zuerst im Sommer 1960 und verkauft sich immer noch massenhaft. Warum? Sicherlich, weil es den Gutmenschen in jedem von uns anspricht, die moralische Instanz, die damit einhergehende Erhabenheit und die Genugtuung, das Richtige zu tun – eben Gefühle, die jeder gerne fühlt. Aber auch die politisch- gesellschaftliche Dimension, das Sittenbild einer vergangenen Zeit, deren Probleme immer noch in den USA und anderswo aktuell sind, ist von besonderer Brisanz.

Atticus Finch, liberaler Kleinstadtrechtsanwalt und alleinerziehender Vater im (fiktiven) Maycomb, Alabama hat die Verteidigung eines jungen Schwarzen übernommen, der beschuldigt wird, eine weiße Frau vergewaltigt zu haben. Seine Kinder, der zwölfjährige Jem und die achtjährige Jean Louise, genannt Scout, erleben die Verhandlung und die Repressalien, denen sich Weiße ausgesetzt sahen, wenn sie das Wort für die schwarze Bevölkerung ergriffen, aus erster Hand. Aber es wäre falsch, „Wer die Nachtigall stört“ nur als bloßen Gerichtsroman, etwa ein früher John Grisham  zu sehen. Denn obwohl das, was im Gerichtssaal passiert spannend und handlungstragend ist, geht es in erster Linie um eine Kindheit, eine Menschwerdung, im Süden der Vereinigten Staaten in den 30‘ gern des letzten Jahrhunderts. Harper Lee lässt uns teilhaben, humorvoll, manchmal belehrend, aber eigentlich immer auf Augenhöhe. Nicht zuletzt, weil viele Figuren, Orte und Begebenheiten autobiographisch geprägt sind, hat der Leser das Gefühl von Authentizität.

Was hat das noch mit uns zu tun? Warum eignet sich die »Nachtigall« als Lieblingsbuch? Der Roman gehört nach einer nicht repräsentativen, aber trotzdem aufschlussreichen ZDF Umfrage aus dem Jahr 2005 zu den  50 beliebtesten Büchern der Deutschen. Ok, Platz 45, aber auf der Liste ist auf der Liste. Basta! Hesse‘s Steppenwolf: Platz 44, Mann’s Joseph und seine Brüder Platz  46. Aber das nur nebenbei. Unzählige Schüler sind, wahlweise im Deutsch – oder Englischunterricht mit der Lektüre und Interpretation gequält worden (gibt es etwas schlimmeres, als ein Buch, das man lesen muss?). Die Grundbotschaft braucht kaum Interpretation oder lange Aufsätze: gelebte Mitmenschlichkeit gegenüber jedermann, sowie Toleranz und Mitgefühl – mit fast schon Buddhistischer Gelassenheit lebt Atticus diese Werte seinen Kindern und seiner Gemeinde vor, schreckt auch vor Anfeindungen nicht zurück, wie der Fels in der Brandung. Das beeindruckt, so klar und konsequent, gerade in einer Zeit, in der es oftmals nur um Profit, um alles – mitnehmen – was – geht und um ein Maximum an Spaß und Erlebnis geht, oft auf Kosten von althergebrachten Werten. Und eben mit diesen Werten ist die „Nachtigall“ voll, manchmal zu voll. Eine Überdosis Moral für das neue Jahrtausend? Warum nicht, lernt der Leser doch, stellvertretend für die Erzählerin Scout (und mit ihr), dass  es wichtig ist, sich für Werte und Ideale einzusetzen. Und das erinnert nicht nur ein wenig an Kant’s Kategorischem Imperativ oder – daran angelehnt- an den Ethischen Imperativ von Heinz von Foerster: »Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird! «.

Der amerikanische Dichter William Carlos Williams schrieb in seinem großartigem Gedicht »Die Efeukrone« 1951: »Du kannst nicht leben, und dich von den Dornensträuchern fernhalten. « Und so windet sich der Leser mit pädagogischem Background so manches Mal, denn eine Erziehung im Wortsinn findet nicht statt. Atticus beschränkt sich auf wenige, exemplarische Lektionen, etwa in Toleranz, Durchhaltevermögen und Strafe. So muss Jem, als Strafe für das Zerstören der Kamelien der ständig lästernden Nachbarin Mrs. Dubose, dieser einen Monat vorlesen. Und begleitet dabei, ohne es zu wissen, die alte Dame bei ihrem selbstauferlegten Morphiumentzug, damit sie sich von dieser Sucht vor ihrem bevorstehenden Tod befreien kann. Es sind  solche wenige Lektionen, die wie das Licht eines Leuchtturms den Kindern ihren Weg in einer ansonsten weitgehend sich selbst überlassenen Welt weisen sollen. Dabei imponiert, dass Atticus nie mit erhobenem Zeigefinger, sondern immer auf Augenhöhe kommuniziert. Pädagogen werden einwenden, dass die Kinder so schnell verwahrlosen, ganz ohne kindergerechte (lern)Angebote. Aber auch darin liegt die Stärke von Atticus: im Wissen, das Kindheit immer auch anarchisch ist, eigene Regeln hat und wild und frei sein will und muss. So wild wie Lee sich selber als junge Frau gab.  »Jem und ich waren mit unserem Vater zufrieden: Er spielte mit uns, las uns vor und behandelte uns im Übrigen mit höflicher Zurückhaltung. «. So einfach, so schwarz-weiß, kann es – zumindest im Buch – sein.

In der Realität sah Harper Lee’s Beziehung zu ihrem Vater anders aus. Nach einer glücklichen Kindheit von ihm verstoßen, weil die junge wilde Frau das Jurastudium abbrach, lebte sie ab 1950 lange in New York, verbrachte die Tage als Flughafenangestellte und schrieb an ihrem ersten, ihrem einzigen Buch, trug die ausrangierte Bomberjacke ihres Bruders, rauchte Pfeife, trank und hatte mutmaßlich eine (unglückliche) Affäre mit einem verheirateten Mann, so Charles J. Shields in seiner Lee – Biographie »Mockingbird: A Portrait of Harper Lee«.

Die »Nachtigall«, gleichwohl ein mit Erfolg überhäuftes Werk, scheint so übermächtig, dass Lee niemals einen zweiten Roman wagte. Was hätte Salinger nach dem »Fänger« noch schreiben sollen? Einen „Jahrhundertroman“? Was könnte Lee nun noch erzählen? Grace Metalious hatte 1956, wenige Jahre vor dem Erscheinen der »Nachtigall«,  mit ihrem Gesellschaftsroman »Peyton Place« (Die Leute von Peyton Place) einen kommerziellen Erfolg gelandet und für große Aufregung aufgrund der offenen Behandlung von Tabuthemen wie Sexualität und Inzest gesorgt. Sie scheiterte aber dramatisch an der Fortsetzung »Return to Peyton Place« (Rückkehr nach Peyton Place) 1959, denn der literarische Schnellschuss konnte nur mithilfe eines Ghostwriters in eine einigermaßen druckreife Form gebracht werden. Sicher scheint, dass Lee mit einem zweiten Buch begann, dieses aber nie beendete oder veröffentlichte. Seitdem lebt sie zurückgezogen in Monreoville, der Stadt, die als Vorlage für Maycomb diente, und die von Lees Buch geprägt ist wie keine andere. Sicher ist, dass viele Figuren, Orte und Begebenheiten entweder so oder so ähnlich passierten; Lee bediente sich dabei autobiographischer Elemente, ebenso wie Zeitgeschehnissen. So ist der Prozess, in dem der farbige Tom Robbinson schuldig gesprochen wird, eine weiße Frau vergewaltigt zu haben, obwohl er ganz offensichtlich unschuldig ist, dem »Scottsboro trial« nachempfunden. Neun farbige Männer wurden der Vergewaltigung von zwei weißen Frauen angeklagt, acht von neun zum Tode verurteilt. Erst in weiteren Instanzen wurden die Urteile in Haftstrafen und schließlich in Freisprüche umgewandelt. Auch hier wurden die schwarzen Angeklagten systematisch Diskriminiert und allein aufgrund ihrer Hautfarbe vorverurteilt.

Hatte Lee Hilfe? Ihr alter Jugendfreund Truman Capote, der in der »Nachtigall« sein literarisches Alter Ego als der phantasievolle, von seiner Familie herumgereichte Dill findet, deutete seine Mitarbeit an Lees Buch an. Die Beziehung zwischen der jungen Schriftstellerin und dem extrovertierten Capote war schwierig. Sie verband die gemeinsame Liebe zur Literatur, das gemeinsame Schreiben. So tippten sie schon in ihrer Kindheit gemeinsam kleine Geschichten in die Tasten ihrer Schreibmaschine. Auch in späteren Jahren arbeiteten sie zusammen, Lee unterstützte Capote bei den Recherchen zu »Cold Blood« (Kaltblütig, rororo), einem Tatsachenroman über ein grausames Verbrechen in einer Kleinstadt in Kansas 1959. Zwei Landstreicher löschen dabei eine ganze Familie aus, scheinbar ohne Motiv. Capote untersucht in seinem Buch die Anatomie dieses Verbrechens, interviewt die Beschuldigten, recherchierte vor Ort, immer unterstützt von Lee. 1963 wohnen die beiden gemeinsam der Exekution eines der beiden Mörder bei. In seinem Buch widmet Capote seiner Jugendfreundin Lee eine kleine Danksagung, sie wird nach Jack Dunphy, dem langjährigen Freund und ehemaligem Lebensgefährten Capotes, benannt. Eine Brüskierung, weil Herabsetzung ihrer Arbeit an seinem Buch, die dazu führt, dass Lee kein Wort mehr mit Capote spricht – fast zehn Jahre bis zu seinem Tod. Die Aufzeichnungen zwischen Lee’s Verlag und der Autorin scheinen zu beweisen, dass Lee die alleinige Autorin ist. Sicherlich gab Capote den einen oder anderen Tipp – dennoch war die erste Fassung der „Nachtigall“ undruckbar, und erst nach langen Diskussionen zwischen Lee und ihrem Herausgeber Tay Hohoff beim Verlag Verlag J. B. Lippincott wurde ein zusammenhängendes Buch aus der vormals eher losen Ansammlung von Begebenheiten.

Lee gibt keine Interviews, verbietet engen Freunden das Reden. Ihr Werk soll für sich allein sprechen, wie Pablo Neruda in der Sammlung »Liebesgedichte« schreibt: »Ich händige also dieses Buch ohne weitere Erklärung aus, als wäre es von mir und doch nicht von mir: es genügt dass es allein durch die Welt gehen und selbstständig wachsen kann. Jetzt, da ich es anerkenne, hoffe ich, dass sein furioses Blut auch mich wiedererkennt. « Schwarz-weiß auch hier; nur das Buch, sola scriptura, sonst nichts.

Bei einem ihrer seltenen öffentlichen Auftritte nahm sie 2007 die Presidential Medal of Freedom – die höchste zivile Auszeichnung der USA von dem damaligen Präsidenten George Bush entgegen, dieselbe Auszeichnung ging  auch an Angela Merkel 2011, überreicht von Barack Obama. Den Pulitzer – Preis für die »Nachtigall« erhielt Lee bereits 1961, ein Jahr nach Erscheinen des Romans.

 1962 verfilmt Robert Mulligan das Buch, Lee ist als »special consultant« in Hollywood vor Ort. Will sie das Drehbuch auch nicht schreiben, erscheint dieses doch 1964 mit einem Vorwort von ihr. Der Film gewinnt vier Oscars, Peck als bester Hauptdarsteller bekommt einen davon.

Das Buch muss sich immer wieder gegen die verschiedensten Vorwürfe wehren: mal kommt das Wort »Nigger« zu oft vor (48 mal), mal ist es die allzu schöngefärbte Erinnerung, die der historischen Realität nicht gerecht wird. Oft beides. So ist das Buch unter den Top Ten derjenigen, die aus öffentlichen Bücherreichen in den USA verbannt werden.

Auch wenn die Nachtigall Lees einziges Buch bleibt, so hat es doch eine so große Leserschaft erreicht, wie es andere Autoren nur mit vielen Büchern (wenn überhaupt) vermögen. Neben dem Thema Rassismus, das nicht nur in den USA immer wieder von großer Aktualität ist, werden Jem und Scout und Atticus und die staubigen, Sommerstraßen von Maycomb immer warten, wenn ein bisschen heile Welt, ein wenig moralisches Vorbild, eine Idee vom edlen Handeln gebraucht wird.

»Atticus drehte das Licht aus und ging in Jems Zimmer. Ich wusste, er würde die ganze Nacht drübenbleiben, und er würde da sein, wenn Jem am Morgen erwachte. « Ja, sie werden da sein. Und vielleicht kann ich meine Freundin doch überreden, diesen Film mit mir zu sehen. Auch wenn er in schwarz - weiß ist. Vielleicht gerade deswegen.

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