Freitag, 09. März 2012, 11:15 Uhr
Es ist das Happy End einer Katastrophe

Eine wunderbare Geschichte

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Es gibt in der heutigen Zeit noch Wunder.

Edewecht / Deutschland Eine wunderbare Geschichte über Sandra Jakobi.


Ein Wunder ist es nicht, das VdK-Mitglied Sandra Jakobi (31) widerfahren ist. Es ist der Lohn für eine tapfere Frau, die nicht aufgegeben hat. Es ist das Happy End einer Katastrophe, die vor mehr als acht Jahren das Leben einer jungen Schwangeren dramatisch veränderte. Es ist aber auch eine Geschichte über die Kraft der Liebe. Und über die Wissenschaft. Denn ohne die säße Sandra Jakobi noch immer im Rollstuhl.

Dass sie sich vor ein paar Wochen bei einem Sturz das Steißbein gebrochen hat, kostet Sandra Jakobi nur ein müdes Lächeln. Schmerzhaft, na klar, aber vergeht. In der Tat ist es kein Vergleich zu dem, was sie sonst schon durchgemacht hat. Ihre Geschichte ist so dramatisch, dass das ARD-Boulevard-Magazin "Brisant" einen Beitrag über sie drehen will. Deswegen sitzt sie jetzt hier im Konferenzraum des Orthopädiehauses Streifeneder in München und wartet auf das Kamerateam.

Sickerblutung im Gehirn

Sie wird noch einmal erzählen, was sie schon so oft erzählt hat. Davon, dass ihr - als sie vor acht Jahren von ihrer Zwillingsschwangerschaft erfuhr - ständig schlecht war und sie starke Kopfschmerzen hatte. Dass die Ärzte es auf die Hormonumstellung schoben und dabei in ihrem Kopf ein Hämangiom, eine Veränderung der Blutgefäße, übersahen. Sie wird erzählen, wie sie sich dann, an diesem 27. Oktober 2002, plötzlich schlagartig besser fühlte, dachte, jetzt würde alles gut. In Wirklichkeit hatte es in ihrem Gehirn angefangen zu bluten. Erst sickernd, dann massiv. Sie wird erzählen, wie sie plötzlich ihre Arme und Beine nicht mehr spürte, dann nicht mehr sprechen konnte und sie als gelernte Krankenschwester panisch dachte: "Ich habe einen Schlaganfall." Bei der Einlieferung in die Unfallklinik Murnau ist sie bereits bewusstlos, nach der Untersuchung in der Röhre heißt es: "Da kann man wohl nichts mehr machen." Die Embryos in ihrem Bauch sind gerade einmal ein paar Zentimeter groß.
Mehr als acht Jahre später sitzt genau diese junge Frau in dem hellen Konferenzraum und lächelt verlegen. "Ich bin so nervös, hoffentlich blamiere ich mich nicht vor den Fernsehleuten", sagt sie. Wird sie nicht. Souverän und locker wird sie auch diese Herausforderung meistern, zusammen mit dem Helfer-Team, das ihr seit letztem Sommer zur Seite steht. Doch bis dahin war es ein weiter Weg.

"Es war die Hölle"
Zwei Wochen lang liegt Sandra Jakobi nach der Gehirnblutung im künstlichen Koma, ein erster Aufweckversuch scheitert. Der nächste gelingt, doch sie ist auf der rechten Seite gelähmt und blind, kann kaum sprechen und hat starke Schmerzen. Medikamente nimmt sie wegen der Babys kaum. Für sie und ihren Freund René beginnt die schwerste Zeit ihres Lebens. "Es war die Hölle", sagt Sandra, die damals nicht versteht, warum ihr Lebensgefährte sie nicht verlässt. Doch für den gelernten Zimmerermeister steht außer Frage: Er wird mit und für Sandra und die Kinder kämpfen. Drei Monate zu früh kommen ihre beiden Mädchen, Emma und Hanna, schließlich per Kaiserschnitt zur Welt. Der Anblick der beiden Frühchen ist für Sandra Jakobi ein Schock. "Ich war sicher: Sie überleben nicht", erinnert sie sich.

Die Zwillinge überlebten, sie überstanden Infektionen, Leistenbrüche und eine Herzoperation - und gaben ihren Eltern Kraft und neuen Lebensmut. Sandra Jakobi sitzt zu der Zeit im Rollstuhl, kann sich nicht so um ihre Kinder kümmern, wie sie möchte. "Ich hasste dieses Ding aus tiefstem Herzen. Mir war klar: Ich will wieder laufen", erzählt sie. Also beginnt sie, verbissen zu trainieren. Mit einer Gehhilfe und einer starren Fuß- und Beinschiene für den gelähmten, schlaff herabhängenden Fuß, macht sie erste Schritte. Sie fällt oft, kommt nicht mehr alleine hoch, hat quälende Schmerzen, weil sie bei jedem Schritt die Hüfte hochziehen muss und stark humpelt. Ihr Rücken und ihre Gelenke tun weh, die einseitige Belastung fordert ihren Tribut. Ohne René, der sich beruflich freistellen ließ, um ganz für seine Familie da sein zu können, hätte sie nicht durchgehalten, sagt sie. Sie wird Mitglied beim Sozialverband VdK, weil sie sich nicht auch noch mit Leistungsträgern herumstreiten will.

Vergangenen Sommer dann der Anruf, der Sandra Jakobis Leben so sehr verändern sollte. Michael Hammes, Physiotherapeut und ein Bekannter aus alten Zeiten, erzählt ihr von einer neuen "Neuro-Orthese". Ein dreiteiliges Gerät, das ihr helfen könnte, wieder sicher und frei zu gehen. "Neurostimulation" nennen Experten die hochmoderne Technik, die vor allem für Patienten mit einem sogenannten Fallfuß geeignet ist. Eine Kniemanschette mit Elektroden, ein kleiner Gangsensor, der im Schuh befestigt wird, und eine Fernbedienung - das ist alles. Sobald die Ferse entlastet wird, gibt der Gangsensor einen Impuls an die Beinmanschette zum Anheben des Fußes. Das bedeutet: weniger Stürze, längere Gehstrecke, Erhöhung der Gehgeschwindigkeit.

Endlich wieder Hoffnung
Ein Hoffnungsschimmer für die junge Mutter. Und sie wird nicht enttäuscht. Unter Aufsicht des Orthopädiemeisters Michael Kloske setzt sie in der Münchner Orthopädiewerkstatt vorsichtig einen Fuß vor den anderen - und kann es kaum fassen. "Ich wusste sofort: Das Ding geb' ich nicht mehr her", erinnert sie sich und strahlt. Nach einer individuellen Anpassung lässt sich in 95 Prozent aller Fälle sofort sagen, ob die Neuro-Orthese für den Patienten geeignet ist oder nicht. Bezahlen muss Sandra Jakobi das Gerät selbst - ein Antrag der Hersteller auf Aufnahme in den Hilfsmittelkatalog läuft - doch das neue Lebensgefühl ist es ihr wert.

Keine Schmerzen mehr
"Ich kann wieder sicherer gehen, ich knicke nicht mehr um. Es ist einfach alles viel leichter. Und ich habe keine Schmerzen mehr", sagt sie. So kann sie auch wieder in ihrem alten Beruf als Krankenschwester arbeiten, kümmert sich jetzt vor allem um Organisation und Schreibarbeiten auf der Station. Das erzählt sie auch der Redakteurin von "Brisant", die mittlerweile mit Michael Kloske einen Drehplan für den Tag ausgearbeitet hat. Wer wird wann wo wie interviewt, was soll Sandra in der Gehschule für die Kamera vormachen, wo ist das Licht am besten. Auch Kloske bekommt Anweisungen von der Crew, als er die Neuro-Orthese erklärt. "Auch wenn es in echt
20 Minuten dauert, hier haben Sie 20 Sekunden"
, sagt die Redakteurin bestimmt. "Und bitte!" Es wird nachpositioniert, dieselbe Szene aus mehreren Perspektiven gedreht. Die Aufnahmen im Therapieraum sind Zentimeterarbeit, weil alles voller Spiegel hängt und der Kameramann sich immer wieder selbst im Bild sieht. "Sorry, dass wir dich so hin- und hersprengen", sagt er zu Sandra Jakobi, als sie zum wiederholten Male auf und ab gehen muss. Doch die macht das gerne. Angst vor einem Sturz hat sie nicht mehr. "Macht ja nichts", meint sie und flachst: "Jeder Gang macht schlank." Wie gesagt, ein Wunder ist es nicht, aber eine wunderbare Geschichte. (ing)


 

Info:

Die Neuro-Orthese, die Sandra Jakobi beim Gehen hilft, ist unter dem Namen "Ness L300 Fußheber System" seit Januar 2010 auf dem Markt. Sie ist vor allem für Patienten mit einem sogenannten Fallfuß oder einer Fußhebeschwäche geeignet. Hier sind die Muskeln im Fuß zu schwach, um ihn beim Gehen richtig anzuheben, was zu Gangproblemen und Instabilität führt.

Betroffen sind zum Beispiel Schlaganfall-Patienten, Menschen mit Multipler Sklerose, Schädel-Hirn-Trauma oder inkompletten Rückenmarksverletzungen. Das Gerät unterstützt per elektrischer Stimulation die Bewegungsfähigkeit. Ob und für wen die Neuro-Orthese konkret geeignet ist, muss individuell geprüft werden.

In Deutschland vertreiben derzeit vier autorisierte Partner des amerikanischen Herstellers das Gerät und betreuen die Patienten individuell. Informationen und Kontaktadressen finden Sie im Internet: www.bioness.com/deutschland.php

Sozialverband VdK Deutschland

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