Spuren in den Köpfen
30 Jahre Neuenburger Kunstwoche Herzlichen Glückwunsch!
Varel / Neuenburg
Zum 25. Jubiläum habe ich mich mit den heute noch sichtbaren Spuren, die die Kunstwochen in Neuenburg hinterlassen haben, beschäftigt. Von den bemalten Wänden der Künstler Janna Hackerova und Kaja Henke (Malerei 1987), über die Skulpturen und Plastiken der Kunstwoche (Bildhauerei 1988/98, Metall 1991) bis zur Skulpturengruppe „Sinnbilder aus Stahl“ von Norbert Jäger (Wasser 2004).
Doch neben dem Sichtbaren (Skulpturen und Plastiken) haben die Kunstwochen auch Spuren in den Köpfen hinterlassen. Spuren, die eigentlich eine kunstsoziologische Betrachtung verdient hätten. Es wird niemand anzweifeln, dass Kunst eine gesellschaftlich Funktion mit vielfältigen Verflechtungen und sozialökonomischen Auswirkungen wahrnimmt.
In den vergangen 30 Jahren hat der Kunstverein „Bahner“ mit Unterstützung zahlreicher Sponsoren und Stiftungen rund eine viertel Millionen Euro in die Kunstwochen investiert. Eine Investition, die Früchte trägt. Damit ist nicht nur der rein ökonomische Effekt gemeint, weil diese Mittel zu 80 Prozent im Dorf geblieben sind und viele Gäste nach Neuenburg gezogen hat, sondern die wahren Ergebnisse der oft flüchtig erscheinenden Kunstaktionen sind die unzähligen Begegnungen zwischen den Künstlern, ihren Werken und den Betrachtern - Zufällig, geplant oder unterschwellig.
Zufällige Kontakte – ein Schlosser oder Baggerfahrer, der zur Hilfe gerufen wurde, um den Künstler bei vorbereitenden Arbeiten für ein Kunstwerk zu unterstützten, eine Gastgeberin oder Wirtin, die sich bemüht, den Künstlern einen angenehmen und unvergesslichen Aufenthalt in unserer Gemeinde zu bescheren - wandeln das Verhältnis zwischen Künstlern und Bürgern. Manch ein Gast kam aufgrund dieser oder ähnlicher Kontakte in die Abschlusspräsentation der Kunstwoche. Man muss nicht alles verstehen oder mögen, aber man kann es sich ja einmal ansehen. Oft war zu beobachten, dass sich über gemeinsame Anstrengungen, technische Probleme zu lösen, auch eine auf gegenseitige Akzeptanz basierende Neugier entwickelte.
Die Neuenburger Kunstwoche will ganz bewusst Neugier wecken. Eine Triebfeder, die Grundschulkinder zu Vorbildern einer ungezwungenen und vor allem vorurteilslosen Kunstbetrachtung macht. Für sie sind die „fremden Künstlern mit ihren manchmal skurril wirkenden Objekten“ nicht abgehoben, sondern einfach nur spannend. Insofern sind die Besuche der „kleinen Kunstkritiker“ erfrischende und beliebte Momente der Kunstwoche bei den teilnehmenden Künstlern.
Seit 30 Jahren besuchen 200 bis 300 Schüler pro Jahr die Mitmachaktionen der Kunstwoche. Jedes Jahr wird ein vollkommen neues Material (von Metall, Glas, Porzellan bis Papier) oder Thema (Luft, Wasser bis Land) ins Zentrum der künstlerischen Auseinandersetzung gestellt und die Teilnehmer so ausgewählt, dass das jeweilige Thema von den unterschiedlichsten Seiten her beleuchtet wird.
Es ist mit Sicherheit nicht übertrieben, wenn man behauptet, dass ein solch spannendes und kontinuierliches Angebot in der ländlichen Region seines Gleichen sucht. Welches kleine Dorf hatte schon Stuntmens zu Gast, die von einem 40 Meter hohen Turm springen (Theater 1996), konnte miterleben, wie man im Feuer tanzt (Kunstwoche Tanz 2001) oder wie man Steine zum Klingen bringt (Klangkunst 2003). Vielfältige Sinnesreize prägen unterschwellig auch das kulturelle Bewusstsein des Einzelnen und der Gesellschaft. Auch ohne empirische Erhebung und wissenschaftliche Begleitung kann man konstatieren „Das macht was mit den Menschen“.
Spannende Demonstrationen, wie man Glas (1993) schmilzt, gießt oder bläst, wie man Papier (1997) schöpft, Porzellan (2007) modelliert oder dreht, bleiben in den Köpfen besser verankert als trockene Theorie im Unterricht. „Ergebnisse“ dieser Begegnungen – der Berührung von Kunst und Bürgern – blühen meist im Verborgenen. Nur wenn z.B. ein junger Zeteler sich nachhaltig für die „Musik“ eines bestimmten Künstlers (Wasser 2004) interessiert und sich dann später mit eigenen digitalen Klangstücken einen Namen macht oder nach Jahren ausKindern junge Erwachsene, aus den ehemaligen Besuchern der Kunstwoche (Straßenkunst 1998) nun selbst kreative Grafiti-Künstler geworden sind, dann ahnt man die ungeheure Ausstrahlung der spektakulären Kunstaktionen.
Manchmal bekommt man allerdings die sozialen Auswirkungen der Kunstrezeption auch unmittelbar, heftig und direkt zu spüren. Dann, wenn ein Kunstwerk in seiner Gestaltung oder seinem Inhalt die Gemüter bewegt. Das fängt spontan, meist anonyme mit schriftlichen Meinungsäußerungen in Form eines Denkzetteln an. Ein Zettel mit „Das soll Kunst sein?“ wurde vor dem umgekehrten Wald „Despina Olbrich-Marianou“ (Kunstwoche Landart 2000) geheftet. Droh- und Schmähanrufe bei vermeidlich Verantwortlichen machen aus der persönlichen Sichtweise auf das Kunstprojekt ein gesellschaftliches Erlebnis. Man kommt über das Kunstwerk miteinander ins Gespräch, muss sich (zwangsläufig) mit ihm auseinandersetzen und sich positionieren.
Während sich eine Diskussion über die rein äußerliche Form im Grunde in ein „gefällt mir“ oder „gefällt mir nicht“ erschöpfen sollte, kann eine inhaltliche Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk gesellschaftlich eine explosive Wirkung entfalten. Unvergessen sind vermutlich die sieben „Käfige“ die der Bildhauer Jörn Werner (Metall 1991) während der Kunstwoche an verschiedenen Bäumen und Gebäuden im Gemeindegebiet hängte. Je nach Standort bedienten sie eine unterschiedliche inhaltliche Ebene. Wurde der Käfig am Schlossgraben eher als historisches Artefakt (Pranger) wahrgenommen, löste er am Dach der Neuenburger Grundschule eine spaßige Diskussion über neue Sanktionsmöglichkeiten für renitente Schüler aus. Doch am Standort des Ehrenmahles in Zetel polarisierte der inhaltliche Interpretationsspielraum des Käfigs und spaltete die Gemeinde in zwei unversöhnliche Lager. Diejenigen, die im Käfig einen Angriff auf das Gedenken der Gefallenen der Weltkriege sahen und diejenigen, die in der befristeten Aktion den künstlerischen Denkanstoß wahrnahmen, dass die an dieser Stelle gedachten Gefallenen der Welkriege letzten Endes Opfer ihrer Zeit – Gefangene im jeweiligen Zeitgeist – waren.
Die gesellschaftliche Auswirkung der Kunstwochen ist keine Einbahnstraße, nach dem Prinzip „Künstler kommt aufs Dorf und bringt den Bewohnern neue Impulse“. Dies ist nur eine Seite der Medaille. Jeder einzelne der 163 Teilnehmer der vergangenen Kunstwochen hat auch ein Stück Neuenburg mitgenommen - die Herzlichkeit der Gastgeber, die Hilfsbereitschaft der Bürger, das unkomplizierte Miteinander unserer Vereine und neue Ideen. Sie kamen als Fremde, gingen als Fans von Neuenburg und manche kamen als Freund zurück.
Iko Chmielewski
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