Jüdisches Altenheim in Varel 1937-1942
Von Herbst 1937 bis Juli 1942 bestand in der Schüttingstr. 13 in Varel ein jüdisches Alten- und Siechenheim, aus dem insgesamt 29 Personen von den Nazis in den Osten deportiert wurden
Varel / Land Oldenburg / Schüttingstraße
Das jüdische Altenheim in Varel, Schüttingstr. 13, dessen Geschichte bzw. das Schicksal seiner Bewohner bisher weitgehend unbekannt war, bestand seit Herbst 1937 im Haus der jüdischen Familie Weinberg. Das Gebäude Schüttingstr. 13 befand sich seit 1911 im Besitz der siebenköpfigen Familie Weinberg. Diese war 1905 aus Detern (Ostfriesland) nach Varel zugezogen. Der Vater Wolf Weinberg betrieb dort einen Produktenhandel.
Nach seinem Tod im Jahre 1919 übernahm einer seiner Söhne, Ernst Weinberg, das Gewerbe.
Nach Beginn der NS-Herrschaft im Jahre 1933 musste Ernst Weinberg durch die Boykottmaßnahmen der Nazis sein angestammtes Gewerbe aufgeben und richtete im Haus Schüttingstraße 13 unter schwierigen Begleitumständen ein Heim für kranke und pflegebedürftige Menschen jüdischen Glaubens ein. Leiter und Betreiber des Heimes waren zunächst Ernst Weinberg und seine ebenfalls noch in Varel lebende ledige Schwester Jette Weinberg.
Im Oktober 1937 zog die erste Bewohnerin des Heimes ein. Zur Zeit der „Reichspogromnacht“ im November 1938 (Zerstörung der Synagoge in Varel) lebten in der Schüttingstraße 13 insgesamt 8 Personen, die allesamt von Angehörigen der Vareler NS-Organisationen „aufgeholt“ und vorübergehend im Polizeigefängnis Varel in „Schutzhaft“ genommen wurden.
Am 22. Oktober 1941 wurden sechs Bewohner von der Staatspolizeileitstelle Wilhelmshaven (Gestapo) über die Zwischenstationen Emden (23.10.) und Berlin (24.10.) in das polnische Ghetto Lodz (Litzmannstadt) deportiert: Die Geschwister Ernst und Jette Weinberg als Besitzer und Betreiber des Altenheimes, sowie ihre Schützlinge Mathilde Eichhold (ledig, gebürtig aus Rockenhausen), Bertha Gröschler (ledig, gebürtig aus Jever), Geschwister Hermann Schulenklopper (ledig) und Sophie Gerson, verwitwet, geborene Schulenklopper (beide gebürtig aus Norden/Ostfriesland).
Das hermetisch abgeriegelte Ghetto Lodz war von den Deutschen bereits im Februar 1940 für polnische Juden eingerichtet worden und im Herbst 1941 schon vor dem Eintreffen der Transporte aus dem Reichsgebiet mit über 160.000 Bewohnern bereits völlig überfüllt.
Es herrschte drangvolle Enge in den heruntergekommenen Gebäuden, die sanitären Verhältnisse waren katastrophal, die zugestandenen Lebensmittel reichten kaum zum Überleben und es grassierten Mangelkrankheiten und Epidemien. Die Geschichte des Ghettos Litzmannstadt ist mittlerweile sehr gut erforscht und es existiert eine umfangreiche weiterführende Literatur.
Insbesondere für die sogenannten "Westjuden" waren die dortigen Verhältnisse ein Schock und eine tödliche Bedrohung und bald überstieg ihre Sterberate bei weitem die Zahlen der übrigen Ghettobewohner. Die im Herbst 1941 neu hinzukommenden deutschen Juden wurden zunächst in Sammelunterkünfte gepfercht, die sechs Vareler kamen hierbei mit den übrigen Opfern aus dem Emdener Transport in ein Gebäude in der Hertastr. 25. Dort starb Jette Weinberg als erste Deportierte aus Varel am 17. November 1941 im Alter von 45 Jahren.
Im Dezember 1941 wurden die noch verbliebenen 5 Vareler in ein neu geschaffenes "Greisenheim II" in der Gnesener Str. 26 verlegt, wo bis Mitte April 1942 weitere vier von Ihnen den unsäglichen Lebensbedingungen im Ghetto zum Opfer fielen: Am 30. Januar 1942 starb Hermann Schulenklopper im Alter von 51 Jahren, am 27. März 1942 Ernst Weinberg im Alter von 42 Jahren, am 29. März 1942 Bertha Gröschler im Alter von 51 Jahren, am 16. April 1942 Sophie Gerson im Alter von 48 Jahren.
Mathilde Eichhold im Vernichtungslager Chelmno ermordet
Die bis zum Frühjahr 1942 einzige Überlebende aus der Gruppe der sechs Vareler, Mathilde Eichhold, geriet am 4. Mai 1942 in den ersten Transport reichsdeutscher Juden aus dem Ghetto Lodz in das nahe gelegene Vernichtungslager Chelmno (Kulmhof). Dort waren schon seit Ende 1941 zunächst Bewohner der umliegenden jüdischen Gemeinden, dann polnische Juden aus dem Ghetto Litzmannstadt in Gaswagen ermordet worden. Ab dem 4. Mai 1942 wurden auch reichsdeutsche Juden in Chelmno ermordet.
Enteignung der Deportierten und die Auktion von "Judenmöbeln" am Neumarktplatz
Das Haus Schüttingstraße 13 und das Eigentum der sechs Deportierten wurde im Zusammenhang mit der Deportation entschädigungslos von der Reichsfinanzverwaltung konfisziert, für die Verwertung und Verwaltung war das damalige Finanzamt Varel bzw. sein Leiter Otto Rohlfs und dessen Stellvertreter Heinrich Sjauken zuständig. Einrichtungsgegenstände und persönliche Habe der Geschwister Weinberg wurden am 5. November 1941 auf einer öffentlichen Auktion in Varel am Neumarktplatz unter Beteiligung vieler Vareler Bürger versteigert. Die Namen aller Erwerber, es handelte sich um einen Querschnitt aus allen Teilen der Bevölkerung, sind in den Versteigerungsprotokollen überliefert.
Die Emder Juden im Vareler Altenheim
Ebenfalls noch am 22. Oktober 1941, sozusagen eine Art „Bewohneraustausch“, waren aus dem jüdischen Altenheim Emden nahezu zwei Dutzend Personen in die 7 Räume in der Schüttingstraße verlegt worden. Sie wurden zunächst von den ersten Deportationen am 23. Oktober aus Emden nach Lodz ausgenommen, für sie war ein anderes Schicksal vorgesehen.
Sie sollten nun mitten in Varel isoliert und zusammengepfercht noch neun Monate unter erbärmlichen Bedingungen leben.
Heimleiter in dieser letzten Phase des Hauses waren das Ehepaar Louis und Betti Wolff. Louis Wolff war der letzte Vorsteher der israelitischen Gemeinde zu Emden. Regionale Bedeutung erlangte das Geschehen in Varel übrigens dadurch, dass die Bewohner der Schüttingstraße 13 spätestens ab Oktober 1941 die letzten Personen jüdischen Glaubens im gesamten Gebiet der Staatspolizeileitstelle Wilhelmshaven (Ostfriesland, Land Oldenburg) waren, die nach der NS-Gesetzgebung den Judenstern zu tragen hatten.
Es waren zuletzt 23 Männer und Frauen, die am 23. Juli 1942 aus Varel über die Zwischenstationen Bremen und Hannover in das Ghetto Theresienstadt im damaligen „Protektorat Böhmen und Mähren“ (heute: Terezin, Tschechische Republik) verschleppt wurden. 16 der verschleppten Altenheim-Bewohner starben dort, sieben wurden von Theresienstadt aus weiter in die Gaskammern des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau gebracht.
Die Gestapo Wilhelmshaven erklärte nach der Deportation im Juli 1942 ihren Zuständigkeitsbereich (Ostfriesland, Land Oldenburg) als „von kennzeichnungspflichtigen Juden gesäubert“.
Auch das Eigentum dieser 23 Deportierten wurde nach der Konfiszierung durch das Deutsche Reich (Finanzverwaltung) auf zwei öffentlichen Auktionen in Varel am 31. August und 1. September 1942 verwertet. Beide Auktionen fanden in der Schüttingstraße 13 statt.
Nach der vollständigen Räumung des Heimes im Juli 1942 wurde das Haus nach einigen Monaten Leerstand, in denen es auch noch zu Plünderungen und Zerstörungen von Einrichtungsgegenständen kam, ab November 1942 vom Finanzamt Varel an den Vareler Schlachtermeister Schubert vermietet.
Als einzige Überlebende der Familie Weinberg kehrte Johanne Titz, geborene Weinberg, nach dem Kriege nach Varel zurück und konnte nach langwierigen rechtlichen Auseinandersetzungen im Rahmen der sogenannten Wiedergutmachung das Haus Schüttingstraße 13 wieder in ihren Besitz nehmen.
Infos zum Verfasser:
http://come.to/holger.frerichs/
Leserkommentare (0)