1. Mai 1945: Mord an einem serbischen (?) Kriegsgefangenen in Neuenwege
Eine Eintragung im Begräbnisregister der Kirchengemeinde Varel weist daraufhin, dass am 1. Mai 1945 ein Kriegsgefangener in Varel-Neuenwege wegen "Kartoffeldiebstahl" erschossen wurde.
Varel / Neuenwege / Rosenbergerstr.
Laut kirchlichem Begräbnisregister soll es sich um einen "tschechischen Kriegsgefangenen" mit Namen Jan Fillo handeln, der auf dem Kriegsgräberfeld II des Friedhofs in Varel seine letzte Ruhe fand. Dort steht heute noch sein Grabstein, der jedoch keinerlei weitere Informationen − wie z.B. ein Geburtsdatum − enthält.
Im Zuge weiterführender Recherchen stellte sich heraus, dass nach dem Kriege auf Betreiben der Besatzungsmacht einige polizeiliche Ermittlungen zu diesem Vorfall stattfanden und vor allem die Angabe der Nationalität zumindest als fraglich anzusehen ist.
Polizeiliche Ermittlungen nach Kriegsende
Unmittelbar nach Kriegsende begannen Nachforschungen über mögliche deutsche Verbrechen an alliierten Kriegsgefangenen. Am 3. September 1945 wies das Staatsministerium in Oldenburg auf Anordnung der Besatzungsmacht die Landräte darauf hin, „(…) dass immer noch eine große Zahl von Dokumenten n i c h t aufgefunden worden ist, die sich auf alliierte Kriegsgefangene und andere Personen, die von den Deutschen im Laufe des Krieges gefangen gesetzt wurden, beziehen.“
Die Landräte wurden angewiesen, in ihrem Zuständigkeitsbereich „alle nur möglichen Schritte [zu] ergreifen, um den Verbleib irgendwelcher derartigen Dokumente festzustellen, und das hiesige Hauptquartier von jedem Fortschritt, den sie vielleicht in dieser Angelegenheit erzielen, [zu] unterrichten.“ Der Landrat in Friesland berichtete daraufhin am 8. September 1945 von dem Vorfall in Varel-Neuenwege, bei dem nach seinem damaligen Informationsstand „ein s e r b i s c h e r Kriegsgefangener (…) von deutschen Soldaten erschossen worden ist. Die Beerdigung der Leiche soll auf dem Friedhof in Varel stattgefunden haben.“ Von einem Tschechen war also in den offiziellen Ermittlungen von Beginn an nie die Rede, bei der damaligen Eintragung im Begräbnisregister der Kirchengemeinde handelte es sich offenbar um einen Übermittlungsfehler.
Zwei Tage später teilte der Gendarmerie-Meister der Gemeinde Varel-Land, Jendralski, den Behörden weitere Erkenntnisse mit: „Die Nachforschungen haben ergeben, dass Ende April oder Anfang Mai 1945 ein serbischer Kriegsgefangener auf dem Gehöft des Bauern Jürgens erschossen wurde. Wie der ehemalige Oberfeldwebel Bernhard Wolf, geboren 26.5.1895 in Groß Woltersdorf, wohnhaft in Neuenwege, Baracke, angibt, wurde der serbische Kriegsgefangene von einem Matrosen oder Obermatrosen eines Erkundungsstabes erschossen, weil dieser angeblich den Anordnungen keine Folge geleistet hat.
Dieser Matrose oder Obermatrose gehörte nicht zum Kommando des ehemaligen Feldwebels Wolf. [Anmerkung des Verfassers: Wolf war offenbar der Kompanieführer der für die Bewachung des Kriegsgefangenen-Lagers Varel-Neuenwege zuständigen Landesschützen-Abteilung.] Erhebungen sind in dieser Angelegenheit bereits gemacht worden, bei denen auch Wolf vernommen wurde. Die Leiche des erschossenen serbischen Kriegsgefangenen wurde auf dem Vareler Friedhof beerdigt.“
Auf Nachfrage des Landrates, um welche Erhebungen es sich handelte, wer diese durchgeführt hatte und wo die entsprechenden Unterlagen verblieben waren, ergänzte Jendralski in einer Mitteilung vom 27. September 1945:
„Der ehemalige Feldwebel Wolf, wohnt in Neuenwege, Baracke, erklärte auf Befragen: ‚Kurz nach der Kapitulation erschienen bei mir zwei Serben, von denen der eine ein Soldat, der andere ein Zivilist war. Beide Serben erkundigten sich bei mir über den Tod des serbischen Kriegsgefangenen in Neuenwege, insbesondere haben sie Erkundigungen darüber eingezogen, wo der serbische Kriegsgefangene bestattet worden ist.‘ Ob die Angaben des Wolf von den beiden Serben aktenkundig gemacht worden sind, kann Wolf nicht angeben, er ist auch nicht in der Lage anzugeben, wo eventuell das Aktenstück geblieben ist.“
Damit endeten seinerzeit die Ermittlungen, die entsprechenden Schriftwechsel gingen an die Militärregierung und wurden nun vom Verfasser im Staatsarchiv Oldenburg wieder aufgefunden.
Nachforschungen des Verfassers
Im März 2008 machte der Sohn des Bauern Jürgens in der Rosenbergerstr. 7 in Varel-Neuenwege, Dietrich Jürgens, als Zeitzeuge dem Verfasser gegenüber einige Angaben, die erklären könnten, warum als Zusatz im Vareler Begräbnisregister bei Jan Fillo die Bemerkung „wegen Kartoffeldiebstahl erschossen“ zu lesen ist. Dietrich Jürgens war im Mai 1945 neun Jahre alt.
Er erinnerte sich noch recht gut an das in Nachbarschaft seines elterlichen Gehöftes auf dem Gelände des Landwirts Theilen eingerichtete Kriegsgefangenen-Lager, dessen Insassen hauptsächlich beim Motorenwerk eingesetzt waren. Vor allem in der letzten Kriegsphase seien dort nach seiner Erinnerung sehr schlechte Bedingungen für die Gefangenen gewesen, die alle einen hungrigen und erschöpften Eindruck machten.
Kurz vor Kriegsende sei auf seinem Gehöft ein Kriegsgefangener im Keller beim vermeintlichen Kartoffeldiebstahl erwischt worden und kurzerhand von einem in blauer Uniform gekleideten deutschen Soldaten mit Kopfschuss ermordet worden. Die Leiche habe einige Zeit im Garten gelegen und er habe sie noch selbst mit eigenen Augen gesehen und war darüber sehr schockiert. Bei den späteren Ermittlungen war nur noch von „Widersetzlichkeit“ zu lesen, der konkrete Anlass für den Mord an Jan Fillo kam nicht mehr zur Sprache.
Der Verfasser hat im Sommer 2009 die Stadt Varel über die Erkenntnisse zur Person Fillo in Kenntnis gesetzt, diese wiederum Anfragen an die Deutsche Dienststelle Berlin und an den Internationalen Suchdienst Arolsen gerichtet, um weitere Angaben zu erhalten.
Von dort wurde aber lediglich bestätigt, dass zu Fillo in Bezug auf seine Nationalität keine zusätzlichen Erkenntnisse vorliegen.
Bis heute weiß man somit mit letzter Sicherheit noch immer nicht mehr als Name und Todesdatum des jungen Fillo, der noch in den letzten Kriegstagen in Varel Opfer eines letztlich nicht genau aufgeklärten und gesühnten Kriegsverbrechens wurde.
Infos zum Verfasser:
http://come.to/holger.frerichs/
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