Freitag, 10. Dezember 2021, 12:42 Uhr
Nächstenliebe

"Ein Lied wie ein Gebet"

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Es ist eine traurige Geschichte, aber ich denke sie paßt ganz gut in unsere Zeit, in diese Zeit speziell, in der man sich über die Wichtigkeit einer intakten Gemeinschaft Gedanken machen muß.Dem anderen Gelegenheit geben uns seine Geschichte zu erzählen und mit ihm auch mal zusammen über seine Traurigkeit weinen.

Oldenburg / Ammerland
Ein Lied wie ein Gebet

Ich habe den Gesang immer noch in den Ohren, obwohl das, was ich da erlebte, schon einige Jahre ,viele Jahre sogar,   her ist.
Die kurzen Zeilen eines alten Volksliedes haben es vermocht, mich über die Maßen zu rühren, mir fast das Gefühl gegeben, hier handele es sich um ein Gebet.
Ich muß das erklären, diese Situation, die wahrscheinlich viele als nicht gerade glücklich empfunden hätten. Ich geriet mitten hinein, ohne es zu wollen.
Ich besuchte wieder einmal „meine Tante Hanni“ (natürlich ist sie nicht meine richtige Tante), in einem Seniorenheim. Ich fühle mich sehr zu ihr hingezogen, zumal sie mich auch von früher, als ich noch ein Kind war, kannte. Sie hörte sogar fast mein erstes Schreien. So dicht wohnten wir damals zusammen.
Ich besuche sie jede Woche und sie freut sich riesig. Sie winkt mir lange hinterher und bald , wenn eine Woche wieder vorbei ist, dann klopfe ich wieder an ihre Tür.

Seit einigen Wochen höre ich schon auf dem Gang die Schreie einer alten Dame. Es können auch Rufe sein, aber man kann ihre Sprache nicht mehr verstehen. Sie versucht wahrscheinlich herauszuschreien, was sie immer noch quält auf ihrem Krankenbett. Laut und unbeholfen liegt da jemand, der wahrhaftig nicht mehr weiß, warum er auf dieser Welt sein muß.
Ich machte Tante Hanni darauf aufmerksam und meinte „horch mal“, da schreit jemand so schlimm! Sie hörte nur manchmal etwas, weil ihr Gehör nicht mehr das beste war, aber sie begann mir zu erzählen von der alten Dame, die sie mal gut gekannt hatte, früher, in einem jüngeren Leben.
Desto mehr sie mehr erzählte, desto sicherer war ich mir, ich hatte sie auch gekannt. Und nicht nur ich, so viele Leute hatten die fast rothaarige Dame kennenlernen dürfen, alle kannten sie, denn sie war in ihrer Art, in ihrem Beruf einzigartig, hatte für jeden ein nettes Wort und sie war aus der Geschichte unserer Gemeinde nicht wegzudenken.
Und jetzt lag sie hier, hinter einer der Türen und beschloß ihr Leben.
Immer wenn ich nach Hause gehe nehme ich Tante Hanni mit bis zum Esssaal, wo alle das Mittagessen einnehmen.

Sie geht neben mir mit ihrem Rollator und dann kommen wir auch an der Tür der alten Dame vorbei, sie steht ein Stückchen offen, aber jetzt schreit oder ruft keiner mehr.
Neben ihr werkelt die Schwester und singt dabei:
„Es war einmal , ein treuer Husar,
der liebt’ sein Mädchen ein ganzes Jahr’,……..Die Schwester verstummt , aber eine andere Stimme setzt ein……“ein ganzes Jahr und noch viel mehr, die Liebe nahm kein Ende mehr“. Ohne Zittern , klar, genau so gut verständlich wie der Gesang der Schwester. N i e hätte ich das geglaubt, dass der Gesang aus dem Bett kam.
Es rührte mich so extrem, dass mir schlagartig die Tränen runterliefen, ich konnte minutenlang nicht mehr sprechen.
Dieses einfache kleine Lied klang aus dem Mund der Kranken wie ein Gebet, hatte sie doch schon die ganze Zeit nie ein richtiges Wort sprechen können.
Ich sehe sie vor mir die stabile kräftige Frau mit den roten Haaren und den lustigen Augen. „Bist Du auch mal wieder hier“, hätte sie sicher zu mir gesagt , wenn sie mich gesehen hätte.
Als ich mich an diesem Tag von Tante Hanni verabschiede nehme ich die Stimme aus dem Nebenzimmer mit nach Hause. Sie hatte soviel Kraft, um das Lied zu Ende zu singen, aber die Kraft zum Überleben hat sie schon lange nicht mehr.

Waltraud Buss, im Mai 2006

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